Mode im letzten Moment

# 12/18-1/19

Das Ganze wäre wahrscheinlich irgendwie hinzukriegen, mit einer realistischeren Organisation zum Beispiel. Aber ich habe da einen Verdacht: Das will gar keiner. Designer, Haar-Stylisten und Make-up-Gurus brauchen den Kick, in allerletzter Sekunde noch an allerletzten Details für die Show herumzutüfteln (oder gleich den ganzen Look über den Haufen zu werfen, den man noch am Vortag in Ruhe erarbeitet und für gut erklärt hatte). Und die Gäste wollen auf gar keinen Fall vor irgendeiner Show-Location rumstehen und warten. Das wäre zwar völlig stressfrei, aber auch ziemlich unchic. Es ist, wie man so schön sagt, ein Teufelskreis, und die Teufel und Teufelinnen in Prada finden es völlig normal, zur auf der Einladung angegebenen Zeit überhaupt erst loszufahren. Damit bringen sie sich und den Rest der Modewelt in Kalamitäten. In einem nicht enden wollenden Adrenalin-Marathon kämpfen sie sich von Termin zu Show zu Termin, springen in High Heels aus dem Auto und bringen die letzten 100 Meter renn-staksend hinter sich, um dann, gerade noch so, auf ihren Plätzen anzukommen. Das Licht geht aus, die Show geht los – dieses Gefühl des Triumphs!

Last minute erscheint uns wohl vieles wertvoller, ein Phänomen, das es nicht nur in der Mode gibt, sondern auch im normalen Leben. Ungefähr so wie das Last-minute-Tor während der letzten Fußballweltmeisterschaft von Toni Kroos. Die deutsche Mannschaft hatte schwach gespielt, und dann gab es nur noch diese eine Chance: eine Ecke, Sekunden vor dem Abpfiff. Zum Zerreißen angespannte Nerven, Stille, er macht das Ding rein, eine Welle der Begeisterung bricht los. Wäre dieses Tor irgendwann während des Spiels gefallen, sagen wir in der 60. Minute, dann hätte es sich weitaus weniger gut angefu?hlt. Es ist wohl so: Stresshormone können kreative Energien freisetzen. Oder reden wir uns das nur ein?

Denn es gibt in der Welt der Mode auch Positivbeispiele. Die legendäre Chefredakteurin, Anna Wintour, ist immer pu?nktlich. Sie sitzt gerne als Allererste in der Front Row und starrt stoisch durch ihre schwarze Sonnenbrille. Die Frau hat offensichtlich ein durchdachtes Zeit-Management. Geht also. Oder ein Beispiel von der Designerseite: Veronica Etro. Vor jeder Show geht es bei ihr so zu: Fertig geschminkte Models sitzen vor ihren Kleider stangen mit dem fertig gestylten Outfit und warten Musik hörend oder lesend, dass es losgeht, während die Designerin selbst schon vor dem großen Moment den anwesenden Journalisten ihr Moodboard erklärt. Sie macht das allerdings auch, weil sie danach sofort wegwill, nämlich in den Urlaub.

Eine weitere Show, die seit Jahren stets auf die Minute pu?nktlich beginnt, ist die von Marc Jacobs. Er wurde ziemlich lange dafür kritisiert, dass er sein Publikum immer zu lange warten ließ – und als das im September 2007 eskalierte, wir also geschlagene zweieinhalb Stunden auf steinharten Bänken saßen und warteten, während das Genie backstage einfach noch mal einen Schwung Looks auftrennte und neu zusammenfügte, kam es zum großen Knall in der Presse. Marc Jacobs war daraufhin beleidigt und schwor, nicht ohne eine gewisse Bösartigkeit, sich fortan nie wieder zu verspäten. Es kommt seitdem stets zu dramatischen Szenen, wenn selbst Modelegenden wie Grace
Coddington oder Carine Roitfeld japsend zur Show-Location sprinten, weil sie wissen: Um Punkt 18 Uhr schließen die Türen, und keiner kommt mehr rein. Die Modeleute können also pünktlich sein, wenn sie wirklich wollen!

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Arthur Arbessers Designs leben auch durch den Adrenalin-Kick. Die eigene Kollektion entsteht erst in den letzten drei Wochen vor der Show. Unmittelbar davor wird backstage eifrig alles zurechtgezupft – Foto: Claudia Ferri
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Foto: Claudia Ferri
Foto: Asli Turker
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Die gehetzteste aller Branchen? Die Fashion-Branche, denn Modemenschen sind besessene Perfektionisten. Gearbeitet wird bis zur letzten Sekunde. flair-Autorin und Modejournalistin Julia Werner weiß das – sie war selbst dabei. Zu lesen in der Dezember/Januarausgabe.

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Dürfen wir hier mal ein Geheimnis für eine erfolgreiche Karriere in der Modebranche lüften? Das Wichtigste dafür ist, ein hoffnungsloser Zuspätkommer zu sein. Modeleute machen alles auf den letzten Drücker, auf die letzte Minute – Kollektionen fertigstellen oder bei Fashionshows ankommen. Für normale Menschen wäre der sich alle sechs Monate wiederholende, selbst gemachte Last-minute-Wahnsinn nicht zu verkraften: Ganze Hundertschaften von Redakteuren, Influencern und Einkäufern sitzen in schwarzen Limousinen – hoffnungslos zu spät – und sind – atemlos und mit den Nerven am Anschlag – auf dem Weg zur nächsten Show. Die Misere ist durch und durch selbst gemacht, da kann der Verkehr in Paris und Mailand und New York noch so dicht sein. Denn ja, schon klar, die Show vor der nächsten Show hatte auch schon viel zu spät angefangen. Aber wieso konnte nicht wenigstens die erste am Morgen pünktlich beginnen?

Für den Extra-Thrill findet sie übrigens meistens genau am anderen Ende der Stadt statt. Und so ist schon mit der Herausgabe des Schauenkalenders allen glasklar, dass ein pünktliches Ankommen beim Folgetermin sowieso menschenunmöglich ist. Auch wegen der gefragtesten Models, die so gut wie jeder Designer in seiner Show dabeihaben will. Sie werden mit Motorrädern von Location zu Location gebracht und hasten oft an den ankommenden Gästen vorbei in den Backstagebereich, um geschminkt und gestylt zu werden. Ja, auf Kaia Gerber will im Moment niemand verzichten, was bedeutet, dass Hunderte von Menschen dann eben warten müssen, bis ihre Haare aufgetürmt oder geglättet sind, je nach Look.

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Foto: catwalkpictures.com
22.01.2019