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Fashion Moments von Ingrid Geringer: I lost you

# 12

Mode ist mehr als nur eine Hülle, sie geht unter die Haut. Ingrid Geringer erzählt von ihren ganz persönlichen Fashion-Moments

Text: Ingrid Geringer, Foto: Tina Herz

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I lost you

Diese Kolumne hätte ursprünglich ganz anders beginnen sollen. Dass ich über das Thema Freude schreiben werde, stand allerdings schon am 2. Oktober fest, am Tag der Spring/Summer-2015-Show von Dries Van Noten.

Drei Wochen später sitze ich da, den Redaktionsschluss im Nacken, weil ich das Schreiben meiner Kolumne einfach immer bis zur Deadline vor mir herschiebe. Warum? Das weiß ich selbst nicht. Vermutlich die Furcht, sie könnte Ihnen nicht gefallen, und dann hätte ich keinen Grund, mich herauszureden, denn sie unterliegt keinem Heftschwerpunkt, sie hat weder Regeln noch Richtlinien.

Den ganzen Tag (also am Tag vor Abgabeschluss) inszeniere ich in meinem Kopf Anfang und Ende meiner Geschichte. Denn wenn das erst einmal steht, dann steht praktisch alles. Der Rest dazwischen läuft nämlich wie von selbst. Das Ende weiß ich zu diesem Zeitpunkt zwar immer noch nicht, doch dafür kenne ich mittlerweile den Anfang. Endlich, denn es ist bereits 18:40 Uhr und ich würde gerne noch den „Tatort“ sehen. Sonntagabend eben ...

Ich setze mich an meinen neuen Schreibtisch. Genau genommen an die massive Holzwerkbank meines Vaters, der in diesem Frühjahr gestorben ist. Ich halte für ziemlich lange Zeit inne. Er war Werkzeugmacher und hat sein ganzes Leben lang immer etwas repariert oder gebastelt. Seine Hände waren wie kleine kreative Maschinen, die immerzu etwas erschaffen mussten. Sie haben im Laufe ihres Lebens viele schöne Dinge erzeugt und damit vielen Menschen Freude bereitet.

Ich sitze heute zum ersten Mal an seiner Werkbank, die ich liebevoll zu einem Schreibtisch umfunktioniert habe, sodass sie von nun an zu einem Teil von uns beiden geworden ist. Ich wünsche mir, dass auch ich den Menschen um mich herum Freude bereiten kann.

Wie individuell sich Freude zum Ausdruck bringen lässt, hat mir (und vielen anderen) Dries Van Noten in seiner Ready-to-wear-Show in Paris gezeigt. Bereits die Einladung kam wunderschön verpackt in Form einer kleinen, transparenten Box, gefüllt mit grünem Moos. Neugierige Vorfreude stellte sich bei mir ein und wenn ich ehrlich bin, war seine Show das, worauf ich an diesem Tag am meisten gespannt war. Als ich dann vor der Schau den riesigen Raum betrete, erstreckt sich vor mir ein gewaltiger dreidimensionaler Teppich aus verschiedenen Grüntönen, die an eine Mooslandschaft mitten im Wald erinnern.

Zu Beginn der Show erhebt sich inmitten der düsteren Stimmung ein sanftes Licht über dem Grün. Vögel zwitschern von irgendwoher. Alles kommt zur Ruhe, selbst mein dämliches Mobiltelefon, das wir Zuschauer allzu gerne in die Höhe strecken, um irgendwelche Live-Momente festzuhalten. „I lost you ... I miss you ... But I’ll take care if you’re mine“, tönt es unaufgeregt von Oscar And the Wolf zwischen dem Waldgeflüster aus den Boxen. Die Mädchen streifen über den Teppich, schön wie die Baumnymphen aus der griechischen Mythologie, auf flachen Schuhen und in leichten Kleidern, die im Licht ihre vielen Schichten und Farben enthüllen. Es ist, als würde man durch den Wald spazieren und das Licht flutet durch die Bäume.

Später, nach dem Finale, lassen sich die Mädchen müde auf dem Teppich nieder. Sie versinken in dem moosigen Grün und werden eins mit ihren Kleidern und ihrer Umgebung. Ich bleibe einfach sitzen und bin berührt. In meinem Kopf schwirrt noch immer die Melodie: „I lost you“. Ich verstehe ganz langsam die Botschaft und denke daran, dass wir Menschen viel zu oft den Boden unter den Füßen verlieren. Wie oberflächlich wir oft die Dinge betrachten, den wahren Wert, die Schönheit und deren Aussage nicht mehr erkennen können.

Dass Dries Van Notens Show und seine Kollektion diese vergessenen Emotionen berühren, lese ich bei meinen Recherchen dazu auf einer amerikanischen Fashion-Website. Ein bekannter Modekritiker beschreibt es so: „Es ist Aufgabe der Mode, uns daran zu erinnern, dass Schönheit ein zutiefst menschliches Bedürfnis ist.“

19.11.2014