flair im Juni 2017

Erfolgsautorin Vea Kaiser über die neue alte Sehnsucht, sich heimisch zu fühlen

# 06

Lange war sie für viele ein Unwort. Doch in den Zeiten von Globalisierung, Flucht und Vertreibung ist Heimat wieder Thema, Trend und Bedürfnis. Autorin Vea Kaiser ist exklusiv für flair in der Juni-Ausgabe einer neuen alten Sehnsucht auf der Spur.

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Illustration: LULU*/plasticpirate.com

Bevor meine Mutter als junges Mädchen nach Schweden reiste, setzte sich meine Urgroßmutter an das Schneidertischchen ihres kühlen Schlafzimmers im Dürnsteiner Hinterland und nähte ihr ein echtes, blaues Wachauer Dirndl. Genau dasselbe Dirndl schlug meine Mutter in Packpapier und legte es in meinen Koffer, als ich mit 16 zu einem Schüleraustausch nach Pennsylvania flog. Ein Stück Heimat zum Anziehen.

„Heimat kann so vieles sein: ein Geschmack, ein Geruch, ein Gefühl, ein Ort, eine Erfahrung – aber auch ein Mensch, eine Sprache oder ein Tier“

Fortan packte ich das Dirndl immer ein, wenn ich für mehr als einen Monat das Land verließ. Ob nach Amerika, Japan oder Mexiko – das Dirndl reiste mit mir um die Welt. Auch als ich zum Studieren nach Zürich zog, nahm ich es mit. Dort trug ich es eines Tages anlässlich eines Festes, an dessen Anschluss wir uns in eine belebte Bar begaben. Noch ehe wir unsere Getränke bestellt hatten, stürmte eine strohblonde, schlauchbootlippige Silikone auf mich zu, die sich mir als Sherry aus Wyoming vorstellte. In der den Amerikanern eigenen Freundlichkeit hyperaktiver Hundewelpen wollte Sherry alles über mein Dirndl wissen, bevor sie selbst ihr iPhone herauskramte, um mir Bilder ihres vergangenen Oktoberfestbesuchs zu zeigen. „Look at me“, sagte sie und hielt mir ein Foto von sich selbst im Dirndl unter die Nase, in dessen Dekolleté ihre Wassermelonen prangten und jeden Augenblick vor Reife zu explodieren drohten: „God created me to wear Dirndl!“

Durch diese Begegnung erfuhr meine Dirndl-Euphorie einen gewissen Dämpfer. Als ich im darauffolgenden Herbst in der Auslage des Ramschfetzen-Ladens New Yorker Dirndln um 29,90 entdeckte, wahrscheinlich in China gefertigt und zu 100 Prozent aus Plastik bestehend, verging mir die Lust am Dirndl-Tragen noch mehr. Ein Dirndl steht für Tradition, Bodenständigkeit, regionale Verbundenheit. Dirndl steht heutzutage aber auch für halb pornöse Dekolletés, Komasaufen im Bierzelt, Andreas Gabalier auf Maximallautstärke, unterlegt von einer grölenden, stampfenden Meute, die die Heimat in den lautesten Tönen zu rühmen weiß, aber vor lauter Schnaps wahrscheinlich nicht einmal mehr nach Hause findet.

Diese Ambivalenz begleitet jedoch nicht nur Dirndl und Trachtenmode, sondern den gesamten Kosmos rund um das Wort Heimat. Denn was soll das überhaupt sein, diese Heimat? Da, wo man herkommt? Da, wo man sich zu Hause fühlt? Rückbesinnung auf das Ursprüngliche? Hinwendung zum Regionalen? Belebung von Traditionen? Wertschätzung alten Handwerks? Selbst gebackene Mohnzelten statt Chocolate Chip Fudge Cookies? Urlaub auf dem mit der Bahn erreichbaren Bauernhof statt im All-inclusive-Hotel auf Malle? Oder die Beschwörung der alten Werte? Geschützte Grenzen? America first? Austria first? Der Rest der Welt second? Wem gehört Heimat? Den neuen Rechten? Den regionales Craft-Bier brauenden Hipstern? Der milliardenschweren Werbe-Maschinerie für Bioprodukte?

Heimat ist wahrscheinlich eines der subjektivsten Konzepte unserer Gesellschaft. Für den einen ist Heimat der Geruch von Wiesenkräutern und Milch aus der Aluminiumkanne, für die anderen der Blick von einer Dachterrasse über die Stadt und das erlösende Klingeln, wenn der Fahrradbote die Pizza bringt. Die eine empfindet Heimat als eng, will nichts als möglichst schnell möglichst weit weg, der andere kann sich ein Leben ohne Sonntags-Schnitzel im Stammgasthaus gar nicht vorstellen. Der eine kann nicht atmen und fühlt sich wie ein Vogel, dem man die Flügel stutzte, sobald er an seine Heimat denkt, die andere wird nervös, ängstlich und verloren, ist sie zu lange von ihr fort. Jeder und jede assoziiert etwas anderes mit Heimat, jeder und jede versteht etwas anderes darunter, jeder und jede fühlt anders, wenn er oder sie an Heimat denkt. Und auch das ändert sich unser Leben lang ständig. Früher gab es für mich keinen herrlicheren Ort als die Abflughalle des Flughafens Wien-Schwechat. Mittlerweile gibt es keinen besseren als die Ankunftshalle ...

...Lesen Sie weiter in der flair-Ausgabe im Juni!

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14.06.2017