Storys

Grenzgenial!

# 03/18

Wer hat nicht schon einmal dieses Wort gerufen, geflüstert oder gedacht? Aber wofür steht der Begriff? Und was passiert mit Menschen, die an ihre Grenzen gehen?
Philosophin Elisabeth von Samsonow hat sich für flair darüber Gedanken gemacht.

Illustration: Lulu*/plasticpirate.com

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Illustration: Lulu*/plasticpirate.com

Die Poesie der anonymen Dichter, der wilde Sprachgebrauch, bringt die Dinge auf den Punkt. Im Begriff der „Grenzgenialität“ bietet sie ein Gipfelereignis in der Ebene verfügbarer Wörter an. Es handelt sich um die Luxusausgabe eines in sich bereits luxurierenden Wortes. Eine absolut pompöse Schöpfung. Meistens ist dieser Begriff in der adjektivischen Form zu vernehmen, ohne überflüssiges Satzdekor. Es entfährt den Überwältigten: „Grenzgenial!“ Oder, der großartigen Sache ansichtig, murmelt man wie im Selbstgespräch, ganz Beifall: „Grenzgenial!“ Das Wort ist die Anerkennung. Es ist eine Anerkennung, die im richtigen Augenblick, im glücklichen Moment, erteilt wird. Die gedrechselte Komposition bezieht sich auf die gute Gelegenheit, die durch den perfekten Zugriff „verwandelt“ (um die Sprache des Fußballs zu zitieren) wird. Nicht nur das Genie, auch der für die Tat offengehaltene Augenblick bilden das Material für Grenzgenialität. Diese ist nun, genau betrachtet, ein Kompositum aus zwei nachgerade besetzten Begriffen: Grenze und Genie. Aber die Poesie der anonymen Dichter schert sich wenig um solche „Schwierigkeiten“, ganz im Gegenteil. Im Namen der poetischen Punktlandung, einer angemessenen Erdichtung, wird direkt die Kiste der virulenten Worte angesteuert.

— Die Grenze —

Da ist einmal die Grenze, die der Genialität vorangestellt zunächst eine Steigerung bedeutet. Die anonymen Dichter (der „Volksmund“, die Sprache der Straße) wissen intuitiv, in welchen Sinngebieten sich das erwünschte Knistern einstellt. Also wird „Grenze“ einmal als Präfix eingesetzt, als Steigerung, die bedeutet: bis zur Decke, bis an den Zaun, bis zum roten Bereich, bis an die Klingel am obersten Ende des Hau den Lukas, ganz nah am Unmöglichen. Die Grenze kommt auf allen Ebenen vor, es gibt Grenzen der Technik, des Wissens, der Politik, der Kulturen, des Menschlichen überhaupt. Die Grenze ist dazu da, sich ihr anzunähern und sie zu überschreiten. Grenzen ordnen die menschlichen Dinge genauso, wie sie sie in Unordnung bringen dadurch, dass sie eine Herausforderung, eine Anrufung, eine Provokation darstellen. Grenzen werden permanent verschoben. Grenzen haben einen vorläufigen Verlauf. Territorialgrenzen sind historisch entstanden. Es gibt künstliche und natürliche Grenzen, historisch gewachsene und historisch gesetzte …

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Foto: Klaus Rünagel

ELISABETH VON SAMSONOW
Die deutsch-österreichische Künstlerin hat Philosophie, Theologie und Germanistik studiert. Sie ist Ordinaria für philosophische und historische Anthropologie der Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien sowie Mitglied der GEDOK München. Neben ihrer internationalen Ausstellungs- und kuratorischen Tätigkeit lehrt und forscht sie u. a. zu den Schwerpunkten Philosophie und Geschichte der Religionen in Beziehung zu einer Theorie des kollektiven Gedächtnisses, zum Verhältnis zwischen Kunst, Psychologie und Religion, zur Theorie und Geschichte des Frauenbildes bzw. der weiblichen Identifikation sowie der sakralen Androgynie. Samsonow veröffentlicht regelmäßig Bücher.

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22.03.2018