flair im März

Genies verzweifelt gesucht!

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Alexander McQueen / Foto: Getty Images
Alexander McQueen / Foto: catwalkpictures.com

„Das Genie steht dem Wahnsinn
näher als der Durchschnittsintelligenz“

— Arthur Schopenhauer

„Ein Genie erkennen wir instinktiv“, meint Dr. Kári Stefánsson, Neurobiologe und -pathologe aus Reykjavík. „Manchmal nur nicht zu Lebzeiten.“ Sein Archetyp eines Genies ist Albert Einstein, der im Frühjahr 1905 in einem Schweizer Patentamt arbeitete, „und nebenher genau vier Arbeiten veröffentlichte, von denen jede einzelne unsere Sicht der Welt auf eine Art verändert hat“.
Wie dem Gehirn solche bahnbrechenden Innovationen gelängen, darüber wisse man noch immer zu wenig, sagt Stefánsson, dessen Firma deCODE genetics sich über unsere Gene weitere Einblicke erhofft. Immerhin gilt wahrscheinlich, dass kreative Menschen ein unterbewusstes Reservoir nutzen, aus dem Geistesblitze tieferen Verstehens „aufsteigen“. Das Gehirn soll sich dabei ähnlich autark organisieren wie ein Schwarm Gänse am Himmel. Unser Körper ist für Stefánsson bloß dazu da, „unser Gehirn zu immer neuen Orten zu bringen“. Für noch mehr food for thought.

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Lieber „Nummer sicher“ statt Fashion-Feuerwerk? Schwierige Märkte, mysteriöse Millennials und die Wehen der Digitalisierung haben manch stolze Maison zur grauen Maus gemacht. Wo sind noch Designer, die sich kompromisslos für ihre Vision aufopfern? flair im März über die rare Spezies der Genies und ihren bedrohten Lebensraum.

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Die Frau auf dem Empire State Building trägt ein Abendkleid aus Edelstahl. Ihre
Wimpern, spitz wie die Stacheln von Skorpionen. Die langen Fingernägel könnten Glas zerschneiden. Ihr stolz erhobenes Haupt umgibt eine Frisur aus Platindraht. Angst, hier oben vom Blitz getroffen zu werden, hat sie nicht. Sie ist der Blitz. Aus ihren kühlen Augen schießen Laserstrahlen.
Mit dieser fiktiven Szene beschreibt Stil-Guru Simon Doonan in seinem autobiographischen Parforceritt „The Asylum“ die Welt, die der französische Designer Manfred Thierry Mugler um seine Kundinnen herum erschuf. Bevölkert von Alien-Amazonen, Vampiren, B-Movie-Aktricen und Sekretärinnen kurz vorm Amoklauf. Mugler, so Doonan, habe die Grausamkeit der Mode, ihre Schönheit und ihren Wahnsinn zu atemberaubenden Kreationen von überirdischer Perfektion verwoben. Mehr noch, „er hat alles überhöht, mit Steroiden vollgepumpt, mit Benzin übergossen und angezündet“. Künstler und Oeuvre verschmolzen. Mugler verstörte sein Publikum, und wurde dafür zugleich bewundert und belächelt. Nur an seiner Genialität zweifelte niemand.

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Foto: ©Thierry Mugler
Foto: ©Thierry Mugler

Bis zu seiner letzten Show im Oktober 2009 wusste Alexander McQueen immer aufs Neue zu überraschen, zuletzt etwa mit einem smarten grauen Mantel, der sich in ein weich fallendes bedrucktes Kleid zu verwandeln schien. „Nie zuvor gesehen“, das beschrieb seine Outfits und Inszenierungen wieder und wieder sehr treffend. McQueen war ein ungemein talentierter Schneider, er besaß ein Auge für Magie auf dem Laufsteg und den eisernen Willen, aus Expertise und Effekten unvergessliche Fashion-Moments zu formen. Dafür verausgabte er sich zwischen Figurinenblock, Schnitttisch, Büste und Bühne komplett, lief privat im Schlabberlook herum und hatte angeblich ein vernachlässigtes Gebiss, das Bekannte mit Stonehenge verglichen. Seine größte Furcht, schreiben Biografen, war die Langeweile. Wie sonst ist zu erklären, dass er einmal Kleider in seinem Garten aufhängte, mit Tonklumpen bewarf und die Oxidation der besudelten Stücke über Tage und Wochen beobachtete. Oder dass er einmal über seine Arbeit sagte: „Man kann nicht ständig mit den gleichen Konzepten von gut, böse und hässlich arbeiten.“ Rastloser Schaffensdrang und unberechenbare Impulse prägten unser Bild von McQueen, der den Zuschauerinnen in der Front Row schon mal vom Catwalk aus den Mittelfinger entgegenstreckte.

15.03.2018